Mein Sohn ist im ersten Kindergarten. Ein «Gspänli» von ihm erzählt immer wieder wilde Geschichten. Eine davon: Er, Julius, sei gemütlich im Meer schwimmen gewesen. Plötzlich sei ein Hai aufgetaucht und habe ihn angegriffen. Daraufhin habe Julius dem Hai ins Gesicht gefurzt; der Hai sei erschrocken und habe das Weite gesucht.
Diese Geschichte von Julius, so verrückt und unglaublich sie auch klingen mag, hat mich an die aktuelle Situation im HR erinnert. Jahrelang war es selbstverständlich, dass wichtige Fachkräfte relativ einfach auf dem Arbeitsmarkt gefunden werden konnten. Mal dauerte es länger, mal weniger lang. Das Risiko, dass Prozessunterbrüche wegen Personalsuche entstehen, war sehr gering. Die allermeisten Unternehmen waren im «Flow», wenn es um die Erledigung ihrer Kernaufgaben ging.
Das hat sich in den letzten ein bis zwei Jahren radikal geändert. Einzelne Unternehmen bekunden Mühe, die Löhne pünktlich zu zahlen, weil es ihnen an HR-Fachkräften mangelt. Andere müssen Betten reduzieren, weil Pflegepersonal fehlt. Wieder andere lassen die Terrasse bei schönem Wetter geschlossen, weil das Restaurant kein Personal findet.
Laut x28, dem führenden Arbeitsmarkt-Datenprovider der Schweiz, präsentiert sich die Gesamtsituation aktuell wie folgt (Stand: 17. Februar 2023):

Der Hai in dieser Geschichte ist der Arbeitskräftemangel. Niemand weiss ganz genau, woher dieser gekommen ist. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder kommen keine neuen Mitarbeitenden, oder es gehen zu viele – oder beides.
Bei einem Projekt-Staffing habe ich eine unserer besten Beraterinnen vorgeschlagen, die frisch aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam. Ein Manager auf Kundenseite wollte jedoch nicht, dass diese Beraterin am Projekt arbeitet, da sie angeblich einen anderen Fokus im Leben hätte. Solange solche Manager das Sagen haben, gilt wohl die Formel: Gehen > Kommen.
Auf der Kommen-Seite müssen sich Unternehmen fragen, ob sie genug sichtbar und attraktiv für neue Mitarbeitende sind. Setzen wir auf die richtigen Plattformen? Wie ist unser Ruf im Markt? Wie bekannt sind wir als Arbeitgeber:in? Wie gut sind unsere Stellenanzeigen im Vergleich zu anderen? Externe Faktoren, wie etwa die Verfügbarkeit von Nachwuchs für ein bestimmtes Profil oder ob der Arbeitsinhalt spannend genug ist, lassen sich dagegen nur schwer beeinflussen.
Auf der Gehen-Seite ist die Unternehmenskultur der wohl wichtigste Faktor. Haben wir eine Führungskultur, die Mitarbeitende begeistert? Erhalten unsere Mitarbeitenden von der Teamleitung die Wertschätzung, die sie verdienen? Gibt es ein gemeinsames «Warum» im Unternehmen oder im Team?
Es gibt jedoch auch Faktoren, die einfacher zu beeinflussen sind: Haben wir einen sauberen, effizienten Onboarding-Prozess? Sammeln wir kontinuierlich Feedback (Experience Management)? Bieten wir spannende Entwicklungsmöglichkeiten? Erkennen wir Änderungswünsche schnell genug? Suchen wir zuerst intern nach Talenten, die bereits zur Unternehmenskultur passen, bevor wir Stellen extern ausschreiben?
Zugegeben, das sind mehr Fragen als Antworten. Einfache Antworten darauf zu finden, ist allerdings schwierig – insbesondere keine pauschalen oder generischen. Langfristig wird sich der Fachkräftemangel in vielen Branchen nicht entspannen, allein schon wegen des demografischen Wandels. Jedes HR tut gut daran, sich die richtigen Fragen zu stellen und eine Strategie auszuarbeiten. Es ist auch nicht verkehrt, sich eine Bewältigungsstrategie zu überlegen – so wie Julius.
Autor

Philippe Dutkiewicz
Management, HR Strategies