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Fachartikel

Aus HR Today

Der Recruiting-Spagat

Recruiting wird dann kraftvoll, wenn Strukturen Klarheit schaffen – und echte Gespräche wieder im Mittelpunkt stehen.

Ich investiere gerne Zeit ins Recruiting – weil ich an Potenzial glaube. Weil ich überzeugt bin, dass hinter jeder Bewerbung ein Mensch steckt, den es sich lohnt, kennenzulernen. Und doch tut mir diese investierte Zeit oft weh. Nicht, weil diese Zeit verschwendet wäre. Sondern weil so vieles andere liegen bleibt. Die To-dos stapeln sich, der Kalender ist voll, die Termine drängen – und trotzdem sitze ich da und führe Gespräche. Immer mit dem Gedanken: Vielleicht ist genau dieses Gespräch das eine, das zählt.

Das Dilemma echter Gespräche

Neulich im Bus: Ich traf eine Kollegin, die gerade Verstärkung für ihr Team suchte. «Ich stecke so viel Zeit in Gespräche», sagte sie. «Aber irgendwann frage ich mich: Wie viele davon bringen uns wirklich weiter?» Später scrollte ich durch LinkedIn und blieb an einem Post hängen. Eine HR-Verantwortliche hatte in ihrer Bio einen einfachen Link: «Book a 15-min Call with me». Jeden Tag ein Zeitfenster für Interessierte. Kein Formular, keine klassische Bewerbung – einfach ein Gesprächsangebot. Mein erster Gedanke: Grossartig. Mein zweiter: Oder ist das schon wieder zu vielinvestierte Zeit – bei ohnehin knappen Kapazitäten?

Beide Erlebnisse zeigen das gleiche Dilemma: Wir glauben an Potenzial und wollen den Menschen hinter dem CV kennenlernen. Aber genau dieser Anspruch macht Recruiting oft anstrengend – und manchmal auch frustrierend. Nicht wegen der Kandidatinnen und Kandidaten, sondern wegen unserer Prozesse. Zu viele Schritte, unklare Zuständigkeiten, fehlende Unterstützung durch Systeme oder Tools. Sind es wirklich die Gespräche, die Zeit kosten – oder das Drumherum, das sie kompliziert macht?

Drei Hebel für ein Recruiting mit mehr Wirkung

Die entscheidende Frage ist oft nicht, ob wir zu viel Zeit ins Recruiting investieren – sondern wofür. Allzu häufig beschäftigen wir uns mit Dingen, die uns nicht weiterbringen. Statt dass die Prozesse für uns arbeiten, arbeiten wir für die Prozesse. Sie entlasten uns nicht, sie halten uns auf. Genau hier liegt der Schlüssel: Es geht nicht darum, weniger Gespräche zu führen, sondern darum, bürokratische Hürden abzubauen. Damit wieder Raum für echte, menschliche Begegnung entsteht. In meiner Arbeit im Recruiting und als HR-Strategieberaterin habe ich drei ganz praktische Hebel identifiziert, mit denen sich Recruiting spürbar menschlicher und gleichzeitig effizienter gestalten lässt.

 

Recruiting zwischen Bürokratie und Begegnung: Wo Prozesse entlasten, entstehen echte Gespräche – und damit die Candidate Experience, die bleibt.

1. Prozesse entwirren: Candidate Journey Mapping

Veränderung beginnt mit Verständnis. Bevor wir in unseren Projekten einen Rekrutierungsprozess optimieren, nehmen wir gemeinsam die Perspektive der Kandidatinnen und Kandidaten ein. Schritt für Schritt verfolgen wir, wie sich der Weg vom ersten Kontakt bis zur Anstellung anfühlt – auch bekannt als Candidate Journey Mapping. Wie erleben Bewerberinnen und Bewerber diesen Weg? Wo sind Stolpersteine? Und an welchen Stellen verlieren wir potenzielle Talente? In Workshops mit HR, Führungskräften– und manchmal auch Bewerbenden selbst – zeigen wir auf, wo es unnötig kompliziert wird: zu viele Touchpoints, unklare Kommunikation, lange Wartezeiten.

Typische Stolpersteine:

  • «Wir melden uns nochmal» – aber keiner weiss, wann.
  • Interne Unklarheit: Wer entscheidet eigentlich?
  • Kommunikations-Chaos: Bewerbende hören wochenlang nichts – oder alles doppelt

Engagement allein reicht nicht, wenn die Übersicht fehlt. Candidate Journey Mapping macht die Komplexität sichtbar und schafft die Grundlage für Vereinfachung. Genau hier schliesst sich der Kreis zu Formaten wie dem 15-Minuten-Call: Statt Bewerbende in langen Formularen oder komplizierten Abläufen zu verlieren, öffnen kurze, direkte Gesprächsangebote die Tür zu echter Begegnung. Low-Barrier-Formate wie Coffee Chats, Speed Recruitings oder digitale Walk-Ins machen Unternehmen nahbar – und setzen Zeit genau dort ein, wo sie den grössten Unterschied macht. Diese zugänglichen Formate signalisieren: Wir nehmen dich ernst, noch bevor du dich beworben hast. Aus einem anonymen Prozess wird eine persönliche Einladung. Und genau das prägt moderne Candidate Experience. Bewerbende wünschen sich zugängliche Kontaktpunkte, die echtes Interesse vermitteln.

Candidate Experience entsteht dort, wo Prozesse bewusst schlanker werden – und echte Gespräche wieder ins Zentrum rücken.

2. Marke erlebbar machen: Echte Menschen statt Hochglanzbilder

Klassisches Employer Branding funktioniert nicht mehr. Hochglanzbilder und austauschbare Werte auf Karriereseiten überzeugen kaum noch. Was zählt, sind glaubwürdige Stimmen und eine Kultur, die spürbar wird. Mitarbeitende, die authentisch erzählen, wie es wirklich ist – was sie schätzen, aber auch, was herausfordernd ist. Das zeigt gelebte Kultur, nicht gesteuerte Kommunikation. Unabhängig vom Kanal – ob über Social Media, auf Messen oder in Interviews: Wer offen und unverstellt spricht, wirkt glaubwürdig.

Eine moderne Employer Value Proposition lebt davon, dass Mitarbeitende mitgestalten dürfen, statt nur ein künstlich erschaffenes Bild nach aussen zu tragen. Echte Einblicke, keine inszenierten Rollen. Das schafft Glaubwürdigkeit – und Bindung. Denn wer erlebt, dass Innen und Aussen übereinstimmen, bleibt eher. Und empfiehlt ehrlicher weiter.

3. KI nutzen – für mehr Menschlichkeit

Künstliche Intelligenz (KI) im Recruiting? Viele denken dabei an anonyme Algorithmen und undurchsichtige Auswahlprozesse. Begriffe wie Bias und Regulatorik schwingen sofort mit. Doch der wahre Wert von KI liegt ganz woanders, nämlich dort, wo sie als Assistentin agiert, nicht als Entscheiderin. Richtig eingesetzt übernimmt sie repetitive Aufgaben: Matching, Screening, Terminplanung oder Standardkommunikation – Aufgaben, die uns oft davon abhalten, genau das zu tun, was wir eigentlich wollen – mit Menschen sprechen, sie verstehen, gute Entscheidungen treffen. Das Ergebnis? Mehr Raum für Fokus. Für Dialog. Und für echte Wertschätzung. Hier beginnt die eigentliche Veränderung: Wir sind nicht «weniger Mensch», weil wir KI nutzen. Im Gegenteil sogar «mehr Mensch» – dank und durch besseren Systemen.

Ein Beispiel: Samstagabend. Eine Bewerberin scrollt durch Stellenangebote. Eine Stelle spricht sie sofort an – doch sie muss wohl mit ihren Fragen bis Montag warten. Nicht hier: Direkt auf der Karriereseite öffnet sich ein Chat und sie wird persönlich abgeholt. Eine freundliche Begrüssung, kein BotGefasel. Ihre Fragen werden in wenigen Minuten beantwortet. Sie kann sogar direkt einen Gesprächstermin vorschlagen. Keine Warteschleifen. Keine Hürden. Nur ein unkomplizierter erster Kontakt, der zeigt: bei uns zählt der Mensch. Solche klugen Einsätze von KI schaffen Nähe statt Distanz.

Der Recruiting-Vordenker Matt Alder bringt es auf den Punkt: «The problem isn’t that AI will take our jobs – it’s that we’re doing jobs that shouldn’t exist in the first place.»

Fazit: Recruiting ist Beziehung – kein Verwaltungsakt

Recruiting bedeutet nicht, möglichst viele Gespräche zu führen – sondern die richtigen. Wenn wir Prozesse ehrlich hinterfragen, echte Stimmen sprechen lassen und Technologie gezielt einsetzen, entsteht eine Candidate Experience, die wirkt. Nicht perfekt. Aber echt. Und genau das bleibt.

Denn Recruiting ist kein Lückenfüller. Es ist ein strategischer Hebel. Jede Einstellung beeinflusst, wie sich ein Unternehmen menschlich, kulturell und strategisch weiterentwickelt. Umso wichtiger ist es, diesen Prozess nicht dem Zufall zu überlassen– sondern bewusst zu gestalten. Recruiting bewusst gestaltenheisst, die Zukunft zu gestalten.

Quelle

LinkedIn-Artikel von Matt Alder: www.bit.ly/LinkedIn-Post_Alder

Autorin

Portrait von  Verena Gebler

Verena Gebler

HR Strategies

Verena Gebler ist Strategieberaterin bei HR Campus. Nach vielen Jahren Erfahrung im Recruiting unterstützt sie heute Unternehmen dabei, Recruiting- und Talentprozesse einfacher, menschlicher und wirkungsvoller zu gestalten.

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